Gottesdienst am 12.09.2004
Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
Vicky und Babe sind zwei niedliche Meerscheinchen.
Sie sind den ganzen Tag auf der Lauer, ob jemand von uns sich in der Wohnung
bewegt. Denn sobald sie ein Geräusch hören, fangen sie an zu
quieken in der Erwartung, etwas
zu fressen zu bekommen. Wir füttern sie wahrscheinlich öfter
als nötig, weil sie so penetrant ihre Stimme erheben. Doch was nützt
ihnen die größte Menge Futter, wenn ihr Stall nicht regelmäßig
ausgemistet wird? Sie würden zwar bestimmt nicht an Unterernährung
sterben, aber an Verseuchung durch ihren eigenen Mist. So können wir
den Meerschweinchen zwar das beste Futter geben, aber ohne Ausmisten würde
das in den sicheren Tod führen.
Um das Futter ging es bei der Vaterunser-Bitte
um das tägliche Brot. Wir haben gelernt, dass Jesus sich unserer sehr
elementaren Grundbedürfnisse annimmt. Wir dürfen ihn darum bitten,
was wir heute ganz besonders brauchen. Jesus sagt uns zu, für uns
zu sorgen, uns das tägliche Brot zu geben und selbst das tägliche
Brot zu sein. Doch Nahrung allein genügt nicht. Wie wir tägliches
Brot brauchen, so brauchen wir Vergebung. Vergebung ist wie das Ausmisten
unseres Stalles und bewahrt uns vor dem Ersticken in Bitterkeit, Verletzung
und Selbstzerstörung.
Wir kommen heute zu einem schwierigen und wichtigen
Kapitel, das uns das Vaterunser nahe bringt:
Matthäus 6,12
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben
unseren Schuldigern.
Das Gesetz des Lamech
Ein Mann namens Lamech führte zu Beginn der
Menschheit ein neues Gesetz ein, das zur Folge hatte, dass Unrecht immer
größeres Unrecht nach sich zog und wie eine Lawine Menschen
in den Tod riss. Von ihm heißt es (1.Mose 4,23-24): "Einen Mann
erschlug ich für meine Wunde und einen Jüngling für meine
Beule. Mein Leben soll 77-mal gerächt werden."
Dieses Gesetz des Lamech wird jeden Tag neu wirksam.
Ein Nachbar pflanzt an den Gartenzaun einen Knallerbsenbusch. Der andere
Nachbar regt sich darüber auf, der Streit zieht immer weitere Kreise,
bis ganz Deutschland vom Knallerbsenbusch am Maschendrahtzaun erfährt.
Terrorakte fordern Gegengewalt hervor und nie kommt die Spirale zur Ruhe.
Bei Tisch gibt ein Wort das andere, die Stimmen werden immer lauter, verletzender
die Worte. Wer verletzt worden ist, versucht, weitere Verletzungen zu verhindern.
Er oder sie zieht hohe Mauern um sich hoch, um dem nächsten Angriff
nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Allerdings sind in die Mauer kleine
Schlitze eingefügt, Schießscharten, die ein Zurückschießen
ermöglichen, ohne selbst getroffen zu werden. Hinter der Mauer werden
Regale voller Ordner angelegt. Sie sind gefüllt mit Anklagepunkten
und Verteidigungsreden. Ja, der Alltag hinter der Mauer sieht überwiegend
so aus, dass Anklagereden formuliert werden, Strafen verordnet und Verteidigungsreden
gehalten werden, um sich für den nächsten Angriff zu wappnen
oder ihm sogar zuvor zu kommen. Das Opfer, das eben noch verletzt am Boden
gelegen hatte, wird langsam zum Täter - wenn auch oft nur in Gedanken.
Da wird dem Angreifer die Pest an den Hals gewünscht, eine schnelle
Kündigung seiner sicheren Stelle und mindestens eine Überschwemmung
seines Kellers.
Die Kehrseite dieser sicheren Burg ist die Einsamkeit.
Die hohen Mauern verhindern Kontakte und neue Erfahrungen. So wird man
nach und nach Gesinnungsgenossen hinter die Mauer locken, Gleichgesinnte
suchen und finden, die den Angreifer genauso schlimm und bekämpfenswert
halten und sich gerne am Kampf hinter der Mauer beteiligen. Zu diesem Zeitpunkt
ist nicht mehr zu unterscheiden, wer die meiste Schuld hat. Der ursprünglich
Angegriffene hat sich jedenfalls hoffnungslos in seinen Kontrahenten verbissen.
Was wie ein weit hergeholtes Fallbeispiel erscheint,
ist die Realität des Alltags. Nehmen wir Lisa, sie wird von ihrem
Freund sitzen gelassen. Die Zurückweisung schmerzt sie tief. Wieder
einmal erfährt sie, dass sie nicht genügt, andere attraktiver
sind und sie das Nachsehen hat. Sie zieht sich zurück und leckt ihre
Wunden. Immer wieder begegnet sie dem Ex-Freund, baut sich aber eine hohe
Schutzwand auf, um nicht die alten Verletzungen zu spüren. Im Geist
und im Traum formuliert sie Anklagereden und Verteidigungsreden, sie spioniert
dem Ex-Freund sogar ein bisschen nach, um neue Schwachpunkte zu finden.
Ihre Einsamkeit übertüncht sie, indem sie ihr Herz bei anderen
verlassenen Freundinnen ausschüttet und die stehen ihr treu zur Seite
und schmieden gerne mit beim gedanklichen Mordkomplott. Lisa selbst merkt
gar nicht, wie sie bitter und hart wird. Ihre Kollegen machen längst
einen weiten Bogen um sie. Das ursprüngliche Opfer Lisa wird zur Rächerin,
verwickelt in ihre negativen Gedanken und Gefühle.
Gottes Reaktion auf Lamech und Co. ist wenige
Verse später festgehalten (1.Mose 6,5): "Der Herr sah, dass die
Menschen auf der Erde völlig verdorben waren. Alles, was aus ihrem
Herzen kam, ihr ganzes Denken und Planen, war durch und durch böse.
Das tat ihm weh und er bereute, dass er sie erschaffen hatte."
Gottes Neuanfang
Gott nahm diese verfahrene Situation nicht hin.
Mit Jesus Christus vollzog er eine Operation am offenen Herzen. Er durchbrach
das Gesetz des Lamech mit Vergebung. Interessant ist, wie Jesus Menschen
zur Umkehr bewegte und ihnen Vergebung ermöglichte. Er begegnete Menschen,
sah sie an, schenkte ihnen das Gefühl, angenommen zu sein. Erst in
dieser Atmosphäre realisierten sie ihre Situation, erkannten ihre
eigenen Anteile an dem Schmerz, der ihnen das Leben schwer machte, und
bekamen die Sehnsucht, von den eigenen Mauern und Schießscharten
befreit zu werden. Sie baten Jesus um Vergebung, die er ihnen gewährte.
Der Zolleinnehmer und Betrüger Zachäus
wurde von Jesus angesprochen. Jesus hielt Zachäus nicht etwa vor,
wie unmöglich er sich verhalten hatte, sondern er lud sich einfach
bei ihm zum Essen ein. Zachäus durfte Jesu Gastgeber werden, er war
von ihm akzeptiert. Und da erst kam Zachäus zur Erkenntnis, dass er
sein Leben grundlegend ändern musste. Er bat Jesus um Vergebung und
Jesus gewährte sie ihm.
Grundsätzliches lässt sich an dieser
Begegnung ablesen.
Jesus begegnet uns.
-
Wir erkennen, was uns von ihm trennt, unsere Lieblosigkeit,
unser mangelndes Vertrauen, unsere Gottvergessenheit.
-
Wir sehnen uns nach Vergebung "vergib uns unsere
Schuld".
-
Jesus vergibt uns, er löscht den Film der Vergangenheit
und rechnet die Schuld nicht nach.
-
Jesus nimmt die letzte Konsequenz unserer Schuld,
den Tod, auf sich. Wir dürfen mit Gott leben.
Manche Menschen verschlossen sich dieser Operation.
Sie waren nicht bereit, sich Jesus ganz zu öffnen. Sie lehnten es
ab, von ihm ihre dunklen Seiten aufgedeckt zu bekommen. Sie beschlossen
seinen Tod. Es waren die religiösen und politischen Spitzen der Gesellschaft.
Manche Menschen verschließen sich Jesus auch heute. Sie haben sich
in ihren Mauern eingerichtet. Ihre Bitterkeit nimmt ihnen den Lebensmut.
Vergebung hat Konsequenzen
Vergebung, wie Jesus sie uns gewährt, hebt
das Gesetz des Lamech auf. Wollte Lamech 77-fache Vergeltung, so ordnet
Jesus 490-fache Vergebung an.
Da wandte sich Petrus an Jesus und fragte ihn: "Herr,
wenn mein Bruder oder meine Schwester an mir schuldig wird, wie oft muss
ich ihnen verzeihen? Siebenmal?" Jesus antwortete: "Nein, nicht siebenmal,
sondern siebzigmal siebenmal!" (Matthäus 18,21-22)
Hinter dieser hohen Zahl an Vergebungen steht
die Tatsache, dass wir uns jeden Tag gegenseitig unendlich viele kleinere
und größere Verletzungen zufügen. Jesus möchte uns
davon befreien, die Verletzungen und Vergebungen gegeneinander aufzurechnen.
Er möchte uns ermutigen, aus seiner Vergebung zu leben und selbst
eine Lebenshaltung der Vergebung einzunehmen - unbegrenzt vergebungsbereit.
Diese Haltung werden wir nur leben können, wenn Jesus uns die Kraft
dazu schenkt und wir mit ihm die unendliche Freude erfahren haben, dass
uns vergeben ist.
Doch wie leben wir Vergebung? Zuerst vier häufig
zitierte Missverständnisse zu diesem Thema.
-
"Vergebung ist Verstehen: Wenn ich nachvollziehen
kann, warum mir jemand etwas Schlimmes angetan hat, kann ich es entschuldigen
und vergeben." Doch Vergebung geht über Verstehen hinaus. Sie ist
gerade da gefragt, wo wir nicht mehr verstehen können und es nichts
zu entschuldigen gibt.
-
"Vergebung erst, wenn der andere sich ändert.
Wer mich verletzt hat, muss beweisen, dass er es nicht wieder tun wird.
Solange das nicht geschieht, werde ich an meinem Schmerz festhalten." Vergebung
ist unabhängig von der Haltung des Schuldners oder der Schuldnerin.
Es geht um das Ausmisten meines Stalles, um die Freiheit meiner Seele von
den Rachegefühlen, dem Hass und den Wunden, die ein anderer oder eine
andere mir zugefügt hat. Vergebung greift auch, wenn der andere oder
die andere gestorben ist und sich gar nicht mehr ändern kann.
-
"Vergebung ist Vergessen. Sobald ich eine Verletzung
vergessen habe, kann ich von Vergebung reden." Aber Gott, der uns zuerst
vergeben hat durch Jesus Christus, leidet ja nicht an Demenz und hat einfach
unsere Treulosigkeit vergessen. Er weiß genau, wie wir uns verhalten
haben und vergibt trotzdem. Vergebung setzt auch bei uns gerade da an,
wo wir nicht vergessen können und die Erinnerung an den Vorfall uns
immer noch zum Zittern bringt.
-
"Vergebung ist Versöhnung. Erst wenn wir uns
wieder in die Arme fallen und einen neuen Anfang machen, ist wirklich vergeben
worden." Vergebung ist nicht davon abhängig, dass alles wieder so
wird wie früher. Die Versöhnung hängt von mindestens zwei
Personen ab, Vergebung nur von einer.
Vergebung vollzieht sich in einem unterschiedlich
langen Prozess. Verletzungen, die über eine lange Zeit geschehen sind,
werden eine längere Zeit brauchen, um vergeben zu werden. Doch unabhängig
davon, wie lang der Prozess sich hinzieht, werden oft drei Stationen dabei
durchlaufen.
-
Entscheidung. Die Vergebung beginnt mit der Entscheidung,
meinem Gegenüber zu vergeben. Das ist eine reine Willenssache und
kann auch gegen die Gefühle getroffen werden. Sie basiert auf dem
Wissen um Jesu Vergebung und der Erkenntnis, dass Jesus mir vergibt, damit
ich anderen vergeben kann. Die Entscheidung hat zur Folge, dass ich auf
Rachephantasien bewusst verzichte und meine Gedanken und Tagträume
kontrolliere. Helfen kann ein Dokument, auf dem ich festhalte, dass ich
XY vergebe und keine Schuldforderungen mehr stelle, versehen mit Datum
und Unterschrift.
-
Neues Wahrnehmen. Nach einer Zeit wird sich mein
Blick und mein Gefühl verändern. Ich bin nicht mehr fixiert auf
meinen Schuldner oder meine Schuldnerin. Ich nehme nicht länger ausschließlich
die Schuld an ihr wahr, sondern sehe sie auch in anderen Zusammenhängen.
Ich kann sie loslassen.
-
Gutes wünschen. Ich kann für die Person
beten, ihr wünschen, dass sie mit Gott im Reinen ist und in seiner
Vergebung leben darf. Ich habe keine negativen Gedanken mehr - auch nicht
in unkontrollierten Augenblicken. Mir ist wichtig, dass es ihr gut geht
unabhängig von mir und meiner Seelenlage.
Jesus hing am Kreuz. Er war am Ende seiner Kraft,
geschunden, gefoltert, verhöhnt. Seine Ankläger hatten ihr Unrecht
nicht eingesehen. Sie hatten sich nicht geändert. Und Jesus hatte
nichts von ihren Gräueltaten vergessen. Aber er betete für sie:
"Vater,
vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." In dieser Vollendung
werden wir hier auf Erden Vergebung nicht leben können, aber Jesus
gibt uns alles, um seinem Vorbild zu folgen.
Versöhnung
Wie Vergebung das Ausmisten meines Stalles ist,
so ist Versöhnung das Ausmisten von zwei Ställen. Zwei Personen
treten sich gegenüber und sprechen 3 Sätze: "Vergibst du mir?"
- "Ja, ich vergebe dir. Bitte vergib mir auch." Erst wenn beide sich vergeben
haben, wird Versöhnung möglich, Versöhnung die einen wirklichen
Neuanfang bedeutet. Im Extremfall wird der wegen Unterschlagung entlassene
Angestellte wieder auf den Posten gesetzt, die Ex-Eheleute heiraten wieder,
die verfeindeten Familien verbringen ihren Sommerurlaub gemeinsam und bauen
zusammen ein Haus. Am Gleichnis des Verlorenen Sohnes (Lukas
15,11-32) können wir Versöhnung lernen. Sie ist ein Schuldenerlass
ohne nachträgliches Aufrechnen der Schuld, ohne Bedingungen und ohne
Einschränkungen. Es wird ein Fest der Versöhnung gefeiert und
es gibt Zeichen der Versöhnung. Haben wir hier Handlungsbedarf? Kann
es sein, dass wir Schritte zur Versöhnung zu tun haben? Denn wenn
zwei sich längst vergeben haben, dürfen sie dabei nicht stehen
bleiben. Das Fest wartet. Wer macht den ersten Schritt, bin ich es? Und
wie können die Zeichen der Versöhnung aussehen? Ich weiß
von jemand, der nach 10 Jahren einen Brief bekam von einem Widersacher,
der ihm das Leben damals sehr schwer gemacht hatte. Er bat um Vergebung.
Es war ein großes Fest, als beide sich in die Arme nahmen. Die Verletzungen
auf der einen Seite und die Rachegefühle auf der anderen Seite sind
begraben worden, beide konnten einen neuen Anfang machen.
Vergebung bei Gott und Vergebung untereinander
sind voneinander abhängig. Einsicht ist nötig, dass wir schuldig
werden und selbst Vergebung brauchen. Gott schafft das Gesetz des Lamech
aus der Welt und gibt uns die Vollmacht, seine Vergebung auch in unserem
Umfeld zu leben. Als Gemeinde haben wir alle Chancen, Vergebung untereinander
einzuüben, Feste der Versöhnung zu feiern und damit unserer Dankbarkeit
Ausdruck zu geben, dass Gott mit uns immer wieder neu anfängt.
Cornelia
Trick
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