Sehet auf
Gottesdienst am 07.12.2008

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
auf dem Giebelfeld der Kathedrale Saint-Lazare in Autun, Burgund, Frankreich gestaltete der Bildhauer Gislebertus im 12. Jahrhundert eine Szene, die die Erwartung des Jüngsten Gerichts darstellt. Er brachte damit ein prägendes Thema des Mittelalters zum Ausdruck, die Angst vor Tod, Teufel und Höllenstrafen. So heißt es auch in der Inschrift: „Zum Richter bin ich gesetzt und kröne allein die Verdienste; jedoch Richterspruch und Strafe sind dem Verbrechen gewiss.“ Viele Engel, teuflische Gestalten, Apostel und Heilige sind zu sehen sowie Menschen, die aus dem Grab erschrocken aufstehen und dem richtenden Christus entgegen sehen, der das Bild beherrscht. Zur Rechten Christi ist die GerichtswaageWaage positioniert. Die Waagschale, die Christus am nächsten ist, wird von einem Heiligen mit scheinbar sanftem Druck tief gehalten, während die andere Waagschale oben hängt, obwohl sich eine teuflische Figur mit aller Kraft an sie hängt, um sie in die Tiefe zu ziehen. Der Künstler Gislebertus verkündet den verängstigten Menschen des Mittelalters damit frohe Botschaft: Es kommen mehr Menschen in den Himmel als in die Hölle, der Geist Gottes, symbolisiert durch den Heiligen, ist stärker als alle Macht des Teufels.

Wir leben nicht mehr im Mittelalter. Die Angst vor der Hölle und einem strafenden Richter ist aus dem Blickfeld geraten und bereitet kaum mehr schlaflose Nächte. Doch gehört dieses Thema zur Adventszeit. Wir warten auf den wiederkommenden Christus, es ist Entscheidungszeit. Wie sollen wir uns verhalten, verängstigt wie die Menschen auf dem Giebelfeld der Kathedrale oder froh und voller Hoffnung auf die Vollendung?
Ein Abschnitt aus dem Lukasevangelium hilft uns weiter.

Lukas 21,25-33

Es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. Und alsdann  werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter,  weil sich eure Erlösung naht.
Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass jetzt der Sommer nahe ist. So auch ihr: wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist. Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis es alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte vergehen nicht.

Jesus redet zu uns
Jesus entfaltet ein Endzeitszenario. Er beschreibt eine entfesselte Natur und kosmische Auswirkungen. Nichts mehr wird so sein wie zuvor. Der Himmel entwickelt eine Eigendynamik, das Meer gerät in Aufruhr. Die Ausführungen lassen sich leicht mit Erfahrungen und Beobachtungen unserer Tage illustrieren. Der Tsunami versetzte die Welt in Angst und Schrecken. Das Ozonloch, Klimaveränderungen durch ungebremsten, sogar noch steigenden CO2-Ausstoß lehren uns das Fürchten. Der Evangelist Lukas setzt seinen Schwerpunkt bei der Wiedergabe der Worte Jesu allerdings nicht auf die Beschreibung von kommenden Katastrophen, sondern auf die Auswirkungen, die diese auf Menschen haben. Den Völkern wird bange, sie werden Angst haben, sie werden keine Kraft mehr zum Weiterleben aufbringen können. Diese Auswirkungen sind auch heute zu spüren. Das gesellschaftliche Stimmungsbarometer spiegelt die allgemeine Verunsicherung. Die bekannten Größen Geld, Arbeit, Familie und Natur haben ihre Verlässlichkeit verloren. Wer jetzt noch hoffnungsvoll weiterlebt, muss vieles ausblenden und verdrängen. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, scheint ein Überlebensspruch zu werden. Sind wir Christen bei der Schar, die sich angstvoll duckt wie die Menschen auf dem Wandrelief der Kathedrale in Autun, oder sind wir bloße Verdrängungskünstler?

Der Feigenbaum schlägt aus
Lukas gibt Jesu Worte wieder, ohne das Weltgericht zu thematisieren. Er ermöglicht einen Zugang zu den Zukunftsaussagen ohne Angst. Er war sich offenbar darüber bewusst, dass die Angst vor der Hölle zwar zu Christus treiben kann, aber nicht dauerhaften vertrauenden Glauben an den Retter der Welt ermöglicht. So ist auch Jesu Gleichnis vom Feigenbaum zu verstehen. Der Feigenbaum ist der einzige Baum der Gegend Palästinas, der im Winter seine Blätter verliert. So ist er ein geeignetes Gleichnis für Endlichkeit und Sterben. Wenn Jesus von diesem Baum sagt, dass er grünen wird, so gebraucht er ein starkes Gegenbild zur Endzeit. Schon der Prophet Joel gebrauchte dieses Bild: „Ihr Felder, habt keine Angst mehr, freut euch und jubelt! Der Herr hat Großes getan. Auch die Bäume tragen wieder Frucht, Feigenbaum und Weinstock bringen reichen Ertrag.“ (Joel 2,22) Der ausschlagende Feigenbaum ist ein Hinweis auf Gottes Segen und seinen Willen, alles neu zu machen. Er symbolisiert die Treue Gottes, die Zuverlässigkeit seiner Zusagen und seine Schöpferkraft, die durch kein Weltende in Frage gestellt wird. 

Wenn Zeichen des Weltendes beobachtet werden, so ist das kein Grund, den Kopf angstvoll einzuziehen, sondern ist Grund, den Kopf zu erheben und Jesus zu erwarten. Leute, die Jesus kennen, brauchen keine Angst vor dem Weltende und auch keine Angst vor dem Richter der Welt zu haben. Sie erwarten Jesus als ihren Retter, der ihnen eine neue Zukunft eröffnet. Der Prophet Joel beschrieb diese Zukunft als ausgelassenes Sommerfest im Fruchtgarten. So sieht die Zukunft mit Jesus Christus aus. Denn Jesus erlöst. Er löst aus der zum Untergang bestimmten Weltzeit. Er löst aus den Klauen der teuflischen Figur auf der Giebelwand der Kathedrale, die sich mit aller Kraft an die Waagschale hängt. Er löst aus der Verflochtenheit von Schuld und Sünde. Er braucht keinen Erzengel, um Menschen in seine Gemeinschaft zu holen, sondern legt sich selbst mit seinem ganzen Gewicht auf die himmlische Waagschale um zu retten und ins neue Leben zu holen. Der Evangelist Lukas, der nicht nur das Volk Israel im Blick hat, sondern selbst erlebt hat, wie das Evangelium auch die Nichtjuden erreichte, weitete das Bild des lokalen Feigenbaums aus. Nicht nur ein ausschlagender Feigenbaum ist Symbol für Jesu Rettung, sondern alle ausschlagenden Bäume, auch die in unseren Breiten, sind Zeichen für Gottes Treue und sein Suchen nach Menschen, die ihm vertrauen und den Kopf heben, um ihn zu erwarten. Jesus kommt wieder – für alle ohne Ausnahme. Deshalb heben wir die Köpfe, nicht etwa, weil wir die Not unserer Zeit verdrängen und aus unserem Denken aussperren. Wir sehen dem Retter entgegen, gerade weil wir mit unserem Latein am Ende sind und wissen, dass wir von uns aus das Weltende nicht abwenden können.

Diese Generation wird es erleben
Jesus wusste nicht Zeit oder Stunde des Weltendes. So hört sich die Prophezeiung „Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis es alles geschieht“ oberflächlich falsch an. Doch hat Jesu Aussage eine Tiefendimension. Jede Generation, die seine Worte liest, ist gemeint. Immer wieder neu haben wir uns mit dem Thema des Weltendes auseinanderzusetzen und die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Jede Generation hat bedrückende Zeichen erlebt, die hinwiesen auf Tod, Verfall und die Übermacht des Bösen. Jede Generation ist wieder neu aufgerufen, diese Zeichen ernst zu nehmen als Hinweis darauf, dass diese Welt der Vollendung entgegen geht und Jesus ihr Ziel ist. So sind die Endzeitszenarien Anlass, uns aufwecken zu lassen und den Kopf zu heben zu Jesus. Jesus möchte mit uns in Verbindung sein und uns helfen, in der bedrängten Zeit durchzuhalten. Er möchte uns auf die Sommerzeit im Fruchtgarten vorbereiten. Dazu ermutigt er uns zu einer Lebensführung, die jetzt schon auf die kommende Heilszeit hinweist.

Ein solcher wacher Lebensstil bedeutet, versöhnt mit den Mitmenschen zu leben und Vergebung zu praktizieren. Es entstehen im Alltag immer wieder Situationen, wo uns der Blick auf Jesus helfen kann, an des anderen Fehlern nicht festzuhalten, sondern sich von ihnen lösen zu lassen, dass wir neu beginnen können. Eine wache Haltung mit Blickkontakt zum kommenden Herrn schärft auch den Blick für die, die unsere Liebe heute und hier besonders nötig haben. Wir werden zudem herausgefordert, wahrhaftig zu sein und zu unserem Glauben zu stehen. Schließlich geht es nicht nur um uns und unsere Rettung, sondern dass viele dazukommen, die ebenfalls den Kopf heben und Jesus entgegensehen. Sie mit unserer Lebenshaltung einzuladen, ist unsere Aufgabe in der Wartezeit.

Das Bild vom Weltgericht
Der Richter Jesus Christus hat die Waagschale in der Hand und ist der Retter. Er sucht und ermutigt uns, er legt sich selbst auf die Schale, damit wir erlöst werden aus den Fängen des Bösen. Deshalb muss uns hier nicht die Angst vor dem Weltende umtreiben. Wir brauchen dieses Ende auch nicht zu verdrängen. Wir können den Kopf heben und Jesus entgegensehen, der jetzt schon da ist und uns vergewissert, dass wir zu ihm gehören, heute und für immer. Er spricht uns zu, dass zwar Himmel und Erde vergehen, aber seine Worte nicht. Er hält, was er verspricht.

O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf. Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für.
Wo bleibst du Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt? O Sonn, geh auf! Ohn deinen Schein in Finsternis wir alle sein.
Hier leiden wir die größte Not, von Augen steht der ewig Tod. Ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland.
Da wollen wir all danken dir, unserm Erlöser für und für. Da wollen wir all loben dich zu aller Zeit und ewiglich.
Friedrich Spee 1622, David Corner 1631

Cornelia Trick


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