Alles ist im Fluss
Gottesdienst am 31.12.2001

Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
das Besondere des Silvesterabends liegt im Abschluss und Aufbruch. Ähnlich wie zum Geburtstag schauen wir zurück auf ein Jahr und tasten uns leise vor in ein neues. Doch heute Abend, am Sylvesterabend, ist es eine Gemeinschaftserfahrung. Nicht einer oder eine steht an der Schwelle zum neuen Jahr, sondern wir alle. Wir haben in den zurückliegenden Monaten viel persönlich erlebt, aber auch gemeinsam erfahren. Wir haben unsere Päckchen für uns allein getragen, aber sie auch immer wieder miteinander geschleppt. Teilweise konnten wir sie abgeben, sind sie uns von Jesus Christus auf wunderbare Weise abgenommen worden, teilweise tragen wir sie immer noch mit uns herum. Vielleicht merken wir es inzwischen gar nicht mehr, was uns auf den Schultern drückt.

Der Altjahresabend lädt ein, Vergangenes zu bedenken und zu gewichten. Er lädt ein, Vergangenes abzugeben, heilen zu lassen, einen Schritt in die Zukunft zu tun. Wer heute Abend den Gottesdienst besucht, stellt sich dem Vergangenen, erwartet Zuspruch für die Gegenwart und Kraft für die Zukunft. Er oder sie ist bereit, sein oder ihr Leben neu justieren zu lassen und sich nicht einfach dem Fluss der Zeit zu überlassen.

Dieses Bild ist mir in vergangenen Tagen immer wieder vor Augen gestanden: ein Fluss, Flussder die Zeit, in der wir leben, verkörpert. Auf manchen Strecken lassen wir uns in diesem Fluss treiben. Wir kommen dabei an schönen und weniger schönen Landschaften vorbei. Doch es gibt immer wieder Anlegeplätze, an denen wir aus dem Fluss der Zeit aussteigen können und uns am Ufer ansehen können, wo wir herkommen und wo die Reise hingeht. Eine solche Anlegestelle am Fluss der Zeit ist Silvester. Wir sind heute Abend solche, die ans Ufer treten, dabei Jesus treffen und mit ihm über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges sprechen.

Hebräer 13,8
Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.

Dieses Motto im Hebräerbrief ist als Glaubensbekenntnis formuliert. Über allem, in allem und vor allem ist Jesus Christus. Das hat der Schreiber des Hebräerbriefes so festhalten wollen. Doch ist es unser Glaubensbekenntnis? Können wir da so vollmundig einfallen, wie es uns das Bibelwort nahe legt?

Vielleicht können vier verschiedene Zugänge helfen, uns diesem Bekenntnis zu nähern und es Stück für Stück auf uns selbst im Fluss der Zeit anzuwenden.

Da hören wir das biblische Zeugnis von Jesus Christus. Schon vor Schöpfung der Welt war Jesus beim Vater. Durch ihn ist die Welt gemacht. Er war in allem Anfang und deshalb "gestern", vor unserer Zeit. Jesus hat als Mensch unter Menschen gelebt, das haben wir gerade zu Weihnachten gefeiert. Er ist in unserer Gegenwart bis heute als der Auferstandene, der uns seinen Geist und damit die Verbindung zu ihm schenkt. Und er ist unsere Zukunft. Zu der vollendeten Gemeinschaft mit ihm in Ewigkeit sind wir unterwegs. Er lädt uns ein zu seinem himmlischen Freudenmahl, auf das unser Abendmahl heute schon hinweist.

Aber nicht nur das biblische Zeugnis weist in diese Richtung. Auch das Zeugnis der Väter und Mütter im Glauben preist Jesus Christus. Sie haben erfahren, dass Jesus ihnen zum Du wurde, zum Gegenüber, das sie mit einer neuen Freude, mit Vergebungsbereitschaft und Tatkraft ausrüstete. Sie erzählten von einer neuen Geburt, durch die sie zu neuen Menschen vor Gott wurden. Sie bekannten sich zu Jesus, der schon in ihrer Vergangenheit gewirkt hatte, sie vorbereitet hatte auf den neuen Lebensabschnitt. Und sie gingen voll Zuversicht in die Zukunft, weil sie sich geborgen in Jesus Christus wussten.

Aber, so werden Sie wahrscheinlich einwenden, so richtig sichtbar wird Jesus Christus ja nirgends, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart und die Zukunft kennen wir alle noch nicht. Ja, da muss ich Ihnen Recht geben. Für alle überzeugend ist Jesus nicht. Aber es gibt auch keinen Gegenbeweis. Und immer wieder bricht Liebe, Versöhnung, Barmherzigkeit durch unsere kalte Welt. Immer wieder sehnen wir uns nach dieser Macht in unserem Leben, die wie eine Pflänzchen sogar eine Asphaltdecke sprengen kann. Immer wieder strecken wir uns danach aus, heil zu werden und Frieden zu erleben, Sinn zu finden. Die Vernunft gibt keine letztgültige Antwort auf die Frage nach Anfang, Mitte und Ziel unseres Lebens. Aber sie anerkennt die Sehnsucht danach, sie anerkennt, dass wir nicht fertig damit sind.

Und unsere persönliche Erfahrung? Haben wir Jesus Christus persönlich als den erfahren, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umschließt?

Ein Zeugnis eines Christen habe ich ausgewählt, das uns helfen kann, selbst unsere Erfahrungen in das Bibelwort von Jesus Christus einzuzeichnen. Es ist ein Gebet von Jochen Klepper, das er zur Jahreswende 1938/1939 aufschrieb. Es ist ein Gebet, das die Mitte in schrecklicher Zeit suchte. Und es passt auf unsere Jahreswende, die auch in unruhigen Zeiten geschieht.

Der du die Zeit in Händen hast, Herr, nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen. Nun von dir selbst in Jesu Christ die Mitte fest gewiesen ist, führ uns dem Ziel entgegen.

Der du die Zeit in Händen hast...

Der Beter kennt die Adresse für seine Sehnsucht. Er kennt Jesus, er ist per Du mit ihm. Jesus ist für Jochen Klepper kein unpersönliches Schicksal, sondern der Gesprächspartner. Jesus ist für ihn nicht das Sahnehäubchen für die schönen Augenblicke des Lebens oder der Rettungsanker in den Extremsituationen. Jesus ist vielmehr Begleiter. Der Fluss der Zeit wird von ihm gelenkt, von ihm an den entscheidenden Stellen gestaut oder beschleunigt. Jesus vermittelt Sicherheit. Aber er vermittelt auch Kontrolle. Denn alles geht an seinen Augen vorüber, das Rühmliche und Unrühmliche unseres Alltags.

Manche jungen Leute tragen gerne ein Armband mit den 4 Buchstaben W.W.J.D. (What would Jesus do?). Sie wollen sich während der Klassenarbeit, in der Disco oder unterwegs mit Freunden daran erinnern, dass Jesus bei ihnen ist und ihnen helfen kann, sich richtig zu verhalten. Sie empfinden dieses Armbändchen weniger als Kontrolle, mehr als Hilfe zum Leben. Für sie wäre es vielleicht bedrohlicher, wenn draufstände W.W.D.S. (What would Dad say?). Sie kennen Jesus als Helfer, weniger als Richter.

Und wir? Hat Jesus nicht auch diesen Anspruch, unser Leben zu kontrollieren, es vor Abgründen zu retten und uns damit zu bewahren? Ist Jesus, das Du, nicht auch berechtigt, uns zu warnen vor den Untiefen des Flusses und den räuberischen Fischen, die nach uns schnappen wollen? So möchte ich diese 4 Buchstaben eigentlich nicht den Jugendlichen allein überlassen. Sie haben Bedeutung für uns alle. Nicht als Drohung, aber als neue Platzanweisung. Wir sind nicht Herren und Frauen unserer Terminkalender. Es gibt Störungen, Unterbrechungen, Krankheiten und Auszeiten. Da will Jesus mit uns sprechen, uns beiseite nehmen aus dem Fluss der Zeit. Da will er unser Gegenüber sein.

... nun von dir selbst in Jesu Christ die Mitte fest gewiesen ist ...

Gott gibt sich uns zu erkennen in Jesus Christus, es gibt keinen anderen Weg der Gotteserkenntnis. Und Jesus ist die Mitte der Zeit und unseres Lebens. Diese Mitte ist fest. Wer eine feste Mitte hat, lebt danach. Er oder sie richtet die Prioritäten danach aus. Zeit und Geld werden von der Mitte aus verwaltet. Immer wieder steht die Frage an, was Jesus von uns will, wo er unser Engagement in dieser Welt will, was wir zu unserer Gemeinde beizutragen haben, um ihn zu loben.

Eine solche feste Mitte hilft in Herausforderungen. Gerade am 11.9.2001 erlebten wir das. Wir waren dem Schrecken ohnmächtig ausgeliefert. Aber wir konnten Zuflucht zu Jesus Christus nehmen. Wir konnten Beten für die Opfer und die Terroristen. Wir konnten beten um Frieden und Gottes Gegenwart in all dem Schrecklichen. Und wir wurden massiv in Frage gestellt. Sollte sich unser Leben wirklich hauptsächlich um den Welthandel drehen? War es Jesu Wille, dass gleich nach der Katastrophenmeldung die neusten Börsenkurse genannt wurden? Sollten wir als Christen im Fluss der Zeit nicht andere Akzente setzen? Uns darum mühen, andere zu Jesus Christus einzuladen und unser Leben einladend zu gestalten? Heute können wir diese Mitte wieder neu festmachen im Abendmahl. Jesus will sich mit uns verbinden und verbünden. Er zieht uns hinein in seine Mitte, weg von allem, was im Fluss der Zeit untergeht.

... Herr, nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen ...

In einem Jahr sammelt sich viel Last an. Was wir selbst verursacht haben, was uns andere aufgeladen haben, was wir anderen aufgeladen haben. Am Ende dieses Jahres brauchen wir keine Bilanz von + und - zu machen. Jochen Klepper betet hier in zwei anderen Kategorien. Die eine ist das, was uns zum Segen wurde. Die andere ist das, was Jesus uns noch zum Segen machen wird, auch wenn wir diesen Segen jetzt noch nicht erkennen können. Hier werden wir davor bewahrt, in Jammern und Klagen auszubrechen. Aber wir werden auch daran gehindert, alles Schwierige zu verdrängen oder schön zu reden. Statt dessen können wir unsere Lasten beim Namen nennen und sie Jesu segnenden Händen anbefehlen.

Die einen werden hier ihre Krankheitsnöte bringen, ihre eigene Begrenztheit oder die Not in ihren Beziehungen. Die anderen werden sich ihrer Schuld erinnern, die sie nicht selbst aus dem Weg räumen können und die sie drückt. Wieder andere werden zuerst das Weltgeschehen nennen, Krieg, Elend, Terror und Menschenverachtung. Unsere Aufgabe ist es, das alles wirklich Jesus und seinen segnenden Händen anzubefehlen, um frei für die Zukunft zu werden. Wir können nicht ewig am Ufer sitzen bleiben, der Fluss der Zeit nimmt uns wieder auf und trägt uns weiter. So ist es unsere Aufgabe, an diesen segnenden Händen festzuhalten und darauf zu vertrauen, dass nicht immer 2+2=4 ergeben, sondern Jesus daraus 10 und mehr werden lassen kann, ja sogar Berge versetzen kann.

...führ uns dem Ziel entgegen.

Der Fluss der Zeit hat eine Richtung wie jeder Fluss. Wie für den Main das Ziel das offene Meer ist, so ist für den Fluss der Zeit das Ziel die Ewigkeit. Das neue Jahr ist ein Schritt in diese Richtung. Was es bringen wird? Es wäre schön, wenn wir in 365 Tagen davon erzählen könnten, wie Jesus uns begegnet ist. Wie er in den guten und schwierigen Wegabschnitten gelenkt hat, wie er uns zum Wachsen angeregt hat.

Und in allem sind wir mit ihm in der richtigen Richtung auf die Ewigkeit zu, die einen näher, die anderen ferner. Wir wissen nicht, welche Zeitspanne uns in diesem Fluss noch bleibt.

Heute dürfen wir dankbar diesen Herrn loben, der unseren Lebensfluss kennt und steuert. Im Rückblick können wir Jesus Christus wahrnehmen, der gestern schon in unserem Leben gewirkt hat. Heute können wir Jesus ganz nah im Abendmahl erfahren und 2002 können wir Jesus erwarten als die feste Mitte in unserem Leben, selbst dann, wenn die Strömungen uns fortzureißen drohen.

Der du allein der Ewge heißt und Anfang, Ziel und Mitte weißt im Fluge unsrer Zeiten: bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten.

Cornelia Trick


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